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02 12
U / P
Es war schon später Nachmittag, doch ich verspürte das dringende Bedürfnis, die Grenzen dieser merkwürdigen, widersprüchlichen und unverständlichen Stadt hinter mir zu lassen. Was tun? Mir einen Wunsch erfüllen!

In Dortmund, unweit des Bahnhofs steht ein monumentaler Backsteinbau, der mich schon vor Jahren, während meines Studiums, stets fasziniert hatte, so monolithisch und doch in sich uneinheitlich, architektonisches Stückwerk, mit einer Krone über hohen, rauen Außenmauern, ein schwerer Block auf einem brachliegenden Areal. Es handelt sich um das Dortmunder U, ehemals Fabrikgebäude der Dortmunder Union-Brauerei. Als ich damals um das U strich und Fotos machte, war es natürlich nicht öffentlich zugänglich, ein Einsteigen wäre mehr als ein Abenteuer gewesen, und als es im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2010 umgebaut und zum Kunstort umgewidmet wurde (Interessierten fällt da der Namen Kippenberger ein), da sah ich das höchstens noch aus dem Zugfenster heraus, wenn ich Dortmund mal passierte. Zu mehr kam es nicht.

Dabei wollte ich doch immer mal …

Heute also. Den Moment nutzen. Einfach hinfahren. Ich würde trotz fortgeschrittener Uhrzeit und Anfahrt mit der S-Bahn noch mindestens zwei Stunden Zeit haben, mir das Ding vor Toresschluss anzugucken. Und die Webseite des Hauses verkündete auch noch freien Eintritt (zumindest in Teilen). Das ist doch mal was. Gibt's also nicht nur bei uns in Gelsenkirchen. Auch angesichts der verschwindenden Barschaft ein nicht zu unterschlagendes Argument.

In Dortmund angekommen empfingen mich Dämmerlicht und feiner Nieselregen. Quer über den Parkplatz vor dem Hauptbahnhof schritt ich auf das U zu. In dessen Krone, in der auf spektakuläre Weise verschiedenste Animationen projiziert werden, posierte gerade eine Reihe riesiger Tauben. Am Vorplatz gleich die Erkenntnis: abgesperrt. Baustelle. Laut Schild entsteht hier der „Platz von Buffalo“. Ulkiger Name, er rührt von einer Partnerstadt Dortmunds her. Also außen herum. So passierte ich die ebenfalls auf dem Gelände entstandenen kubischen Büro- und Verwaltungsbauten, die sich mit schwindender Distanz Schritt für Schritt als immer megalithischer und glattgeleckter zeigten. Zwar mit Backstein verklinkert und durch daraus gesetzte horizontale Bänder an der Fassade die tollen 1920er zitierend, doch in ihren Proportionen wieder so heutzeitig, sprich: kühl, sauber, ernst, gewichtig, leblos, Eindruck schindend, dass man das je nach Typ entweder cool findet, oder von Grausen gepackt wird.

Ich muss sagen, dass ich derlei Architektur in früheren Zeiten schon spannend fand. Diese kühle, technische Eleganz. Design. Doch ist das irgendwann verflogen. Zurück bleibt ein Empfinden von Leere. Ich denke, ich habe da irgendwann etwas durchschaut.

Im vollverglasten Erdgeschoss saßen ausnahmslos intellektuell gestylte junge Frauen in teilweise schuhschachtelartigen Büros mit makelos weißen Wänden und tackerten für Firmen mit Namen wie „Innovation Of Business Communication“ auf Computertastaturen herum. Der Einblick von außen schien kalkuliert und gewollt.

Dann endlich, nach Umrundung des ganzen Komplexes, der in einem dusteren Innenhof liegende Eingang zum Dortmunder U. Auf den ersten Blick schien's gar nicht zugänglich zu sein, doch die riesige, blanke Stahltür ließ sich langsam öffnen.

Das weiße Foyer des Hauses hat etwa die Form eines schmalen Kuchenstücks, erstreckt sich über die ganze schwindelerregende Höhe des Gebäudes und ist durchzogen von schwebenden Rolltreppen, deren Unterseiten weiß leuchten. Der Farbklang des Ganzen entspricht exakt dem genau festgelegten Code heutiger Architektur: Weiß, Grau, Anthrazit, Glas. Groß.

Nicht wenige gutkunstbürgerlich gekleidete Menschen standen hier herum und warteten auf etwas. Vielleicht eine Führung. Ich schlenderte an der Kasse vorbei (Eintritt sollte ja frei sein) und sah auf einem Flyerständer den Namen Christina Kubisch. Über die habe ich im Studium mal ein Referat gehalten. War spannend und kam auch gut an. Ein Schild forderte mich auf, meinen Mantel an der Garderobe abzugeben - die sich nicht so ohne weiteres finden ließ. Zuerst schaute ich suchend durch eine Tür in einen großen, von Säulen gestützten und ziemlich dunklen Saal, in dem irgendeine verwaschene Videoinstallation über mindestens 10 kreisförmig gehängte Leinwände flackerte. Erst nachdem ich mehreren handgeschriebenen, mit Tesafilm befestigten Wegweiser-Zetteln gefolgt war, fand ich die sehr langgestreckte schwarze Garderobentheke. Und stellte fest, dass sie sich am entgegengesetzten Ende eben jener dunklen Halle befand, die ich zuvor bloß durch eine andere Tür betreten hatte.

Ohne Jacke auf der ersten Rolltreppe. Während der Fahrt betrachtet man auch hier verschiedene künstlerische Videoprojektionen, die auf die riesige weiße Wand des Foyers geworfen werden. Interessant. Im ersten Stock landete ich zuerst in einer leeren Ecke, in der nur eine Art mobiler Scheibenputzkran geparkt war. In der anderen Richtung ging es dann weiter. Glastüren mit der Aufschrift „Zugang verboten“, dahinter Leere. Dann blickte ich von außen in die Büros irgendeines Kunstinstituts; ich hatte den Namen vorher gelesen aber wieder vergessen. Am Ende der langgestreckten Etage warf (wie übrigens am Ende fast aller Etagen) eine Installation aus großen grauen Blechrohren die klassische Frage auf, ob das nun Kunst sei oder ein Teil der Raumklimatisierung.

Auf der ersten Etage war schon einmal nicht viel zu sehen gewesen. Doch auf der zweiten lockte mich eine Ausstellung der Arbeiten junger Dortmunder Künstler. Sogar der versprochene freie Eintritt war per Schild vermerkt. Na dann – hinein! Der Ausstellungsraum war, wie alles in diesem Haus, groß, weiß und kühl. Auch die gezeigten Arbeiten folgten vollkommen einem Schema, nämlich dem junger Kunst im heutigen Deutschland: bunt, witzig, gegenständlich, gern morbide, stichelnd, zu schockieren bemüht und - vor allem – sauber produziert. Da gab es Objekte mit Verweisen auf Kriegsgerät, Collagen mit blutig abgerissenen Beinen, studentische Interieurs ausgeführt in jener immer stärker um sich greifenden Manier der „halbfertigen subjektiven Bleistiftzeichnung“, bunt in Öl gemalte Prolls mit Glanzlack auf den Backen und - natürlich auch hier wieder - mit Nadel und Faden auf abgerissene geblümte Sofastoffreste gestickte Umrisse nach Foto, z.B. eine Gruppe von Jägern, deren Gesichtszüge dabei modisch ausgespart bleiben.

Immer wenn ich diese Art Kunst sehe, habe ich den selben Gedanken: Die machen doch eigentlich Design. Klar, durch Design lassen sich leicht bestimmte Wirkungen erzielen und Botschaften transportieren. Aber wo geht es denn da auch mal in die Tiefe? Wo sind Dinge, die sich minutenlang anschauen und ergründen lassen? Für mich ein Kennzeichen guter Kunst. Stattdessen die immer gleiche Attitüde, jung und pfiffig aber auch etwas abseitig und unangenehm zu sein. Eine Bildwelt, die offenbart, dass ihre jungen Schöpfer noch nicht viel gesehen haben und Kunst für sie ein kokettes modisches Spiel ist. Nun ja, sollen sie! Lasst die Jugend schaffen und machen! Vielleicht bleiben ja zwei von zehn dabei.

Natürlich, irgendetwas ist immer zu entdecken; die eine besondere Arbeit, die direkt anspricht. In diesem Fall war es das mit kruseligem Garn auf weißes Leinen gestickte Profilbild einer sitzenden Frau. Da steckte was drin, ein Berührungsmoment.

Eine Etage weiter oben blickte ich wieder durch Glas, das hier wie überall im U-Turm mindestens vier Meter hoch aufragte. Dahinter eine in gedimmtes Licht getauchte Ausstellung verschiedenster Kunstwerke. Ein Bild sah aus wie Picasso – oder tat es nur so? War das die Sammlung des ehemaligen Museums am Ostwall, das hierhin umgezogen ist? Ich weiß es nicht. Es stand nichts dran, kein Mensch war zu sehen und das Ganze wirkte so merkwürdig verschlossen, dass ich fürchtete, eine Alarmglocke würde losschrillen, sobald ich die glänzende Klinke auch nur berührte.

Auf der obersten Etage dann tat sich endlich etwas. Eine deutlich mit Besuchern belebte Ausstellung des Malers Alex Katz, Amerikanische Pop-Art. Kaum hatte ich die Ausstellung betreten wollte man meine Eintrittskarte sehen, denn hier, so sagte man mir, ende die Zone freien Eintritts. Ob ich hier bezahlen könne? Nein, das müsse ich im Erdgeschoss tun. Großartig.

Da die Dachterrasse aktuell aufgrund von Bauarbeiten gesperrt ist, ich das irgendwo im Haus versteckte Restaurant nicht gefunden habe und ich ja ohnehin auch kein Geld in der Tasche hatte, war der Rundgang also faktisch beendet. Mit dem irren, weiß-glänzenden Aufzug fuhr ich wieder nach unten. Die Garderobenfrau in der großen dunklen Halle schreckte auf, als ich an die Theke herantrat. Ich müsse schon einen Ton sagen, sie habe mich gar nicht bemerkt. Hallo, sagte ich entschuldigend.

Als ich das Gebäude verließ und wieder in Dunkelheit und Nieselregen eintauchte, waren maximal 35 Minuten vergangen, eher weniger. Eine merkwürdige Stimmung blieb zurück. Hatte ich das alles nur geträumt? Oder stand da wirklich ein riesiges Haus voller perfekter weißer Wände, endloser Glasflächen, anthrazitfarbenen Metallprofilen, langen Rolltreppen – und ansonsten recht wenig Inhalt? Groß, teuer, steril, abgehoben, abgeschlossen, beklemmend, unzugänglich - eine Stil-Blase. Vielleicht war ich am falschen Tag gekommen. Vielleicht hatte ich schlicht nicht zu den Eingeweihten gehört. Vielleicht ist das Dortmunder U weniger für den Kunst Suchenden als zur Illustration kommunaler Kulturpolitik eingerichtet worden. Vielleicht kommt auch gar nicht jeder klar mit dieser gigantomanischen weißen Luftraum-Architektur. Für Menschen mit Höhenangst wären die Rolltreppen schon mal nichts gewesen, von Drehschwindel ganz zu schweigen …

Ich erinnerte mich an den Titel einer Fernsehdoku, die ich vor vielen Jahren mal gesehen hatte: „Architektur der Angst“.

Verblüfft stellte ich fest, dass direkt an der Außenwand des U-Turms auch noch eine riesige Baugrube den Blick in dunkle Tiefe hinabzog, darüber ein Schild, das den Bau eines Ölbohrturms ankündigte. Ich weiß nicht, ob ich das Schild vielleicht falsch verstanden habe, doch mir schien, dieser Ölbohrturm sollte wirklich hier, mitten in der Dortmunder Innenstadt errichtet werden. Es würde mich ehrlich gesagt nicht mehr wundern.


Etwas mut- und ziellos wanderte ich durch die Innenstadt. Was sollte das alles? Worum dreht sich unsere Zeit? Wo sind die echten Dinge? Womit seinen Hunger stillen?

Ein einigermaßen authentischer Bettler bekam meine letzten Kupfermünzen. Mitten auf der Haupteinkaufsstraße fielen mir Stolpersteine ins Auge. „Hier arbeitete … bei Fluchtversuch umgekommen ...“

„Kirche geöffnet“ las ich an St.Reinoldi. Dieses Angebot nahm ich an. Kirchenräume betrete ich seit einiger Zeit immer lieber. Sie bieten die Möglichkeit, mit einem Schritt einen Weltenwechsel zu vollziehen, hier aus der nassglänzenden Welt der gerade schließenden Einkaufsstraße zwischen Burger-King und Telefonladen in einen sehr alten, ungemein atmosphärischen gotischen Kirchenraum. An der Tür las ich noch flüchtig den Titel „World In Passion“.

Drinnen fand ich mich plötzlich und unerwartet in einer Vernissage wieder! Eröffnet wurde eine Ausstellung, die, wie eingeführt wurde, 2010 aus Anlass der Passionsspiele in Oberammergau entstanden war. Verschiedenste Künstler in aller Welt waren per Internet eingeladen worden, sich fotografisch mit Schlüssel-Szenen der Bibel auseinanderzusetzen. Die so entstandenen Bilder wurden unaufdringlich, in kleinem, überschaubarem Rahmen präsentiert und von ausführlichen Texten begleitet. Während ich normalerweise der Auffassung bin, dass Bilder immer zuerst für sich selbst sprechen sollten, waren diese, von Kunstwissenschaftlern geschriebenen Begleittexte hier ein unverzichtbarer Bestandteil. Denn die mit digitalen Mitteln entstandenen Bilder waren ungewöhnlich frei, vielschichtig und beziehungsreich. Auch ist vielleicht nicht jeder Betrachter bibelfest – ich bin es jedenfalls nicht.

In Erinnerung bleibt die recht drastische Darstellung der Szene, in der Abraham auf Geheiß des alttestamentarischen Gottes seinen Sohn opfern will, im Bild ersetzt durch Mutter und Tochter und verlegt in eine Küche der heutigen Zeit. Oder der Zug der Israeliten durch das geteilte Meer, geisterhaft dargestellt durch viele übereinandergeblendete Nackte in einer Dunkelheit. Die Vertreibung aus dem Paradies, Adam und Eva im Scheinwerferlicht über ein leeres Grundstück an einer hohen Brandmauer flüchtend. Daniel in der Löwengrube, der sich schutzsuchend in ein Gewand mit einem Löwenmotiv wickelt. Das Ringen des Pharao mit sich selbst und seinem harten Herzen, dargestellt durch zwei gleich gekleidete Männer, der eine den andere mit dem Fuß zu Boden drückend. Ein Motiv war amüsanterweise derart verrätselt, dass auch der nebenstehende Text nicht viel dazu zu sagen wusste und sich letztlich mit einem Verweis auf den Dadaismus behalf. Zur Bildbearbeitung des Themas der Ehernen Schlange schließlich stand geschrieben, dass Jesus Christus im Gegensatz zu diesem Motiv dafür stünde, die Angst nicht zur Religion zu machen.

Ich habe mich in dieser wesentlich kleineren Ausstellung deutlich länger aufgehalten als im großen Dortmunder U. Die Atmosphäre war nicht im Ansatz vergleichbar. Ganz unerwartet fand ich so an diesem Abend doch noch die gesuchte Anregung. Allein der ausgelegte Bildband über die Passionsspiele Oberammergau mit seinen intensiven, hochkünstlerischen Bildern war den Besuch wert. Die besten Geschichten stecken nunmal in der Bibel.


Was sollte Kunst sein?
Ein Anlass zur tiefgehenden, frei durch Schichten und Facetten dringenden Auseinandersetzung mit grundlegenden Dingen. Auch ein ungebundenes Schweifen und Träumen durch verschiedene Stimmungen und Wandlungen hindurch. Ein Erleben und Erfahren. Nicht oberflächlich.









 
 
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