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05 13 Wirklich unwirklich
+ Größer Vom ersten Moment an, als ich es vor Jahren in einem Band mit Bildern von Paris entdeckte, hat mich dieses Foto fasziniert. So unwirklich - und doch auch wirklich. "Meudon", von André Kertész, 1928 Ein Blick in die Vergangenheit ist dieses Bild und sicher verklärend und verschleiernd, Fotorealität eben, doch darin von geheimnissvollem Reiz. Einmal die situative Besonderheit dieser Straße mit den alten Häusern und dem ganz überraschend dahinter stehenden, riesigen Viadukt. Dass gerade in diesem Moment eine Lokomotive pittoresque darüber dampft und unten Menschen die Straße entlang gehen - ist es Zufall? Fotografenglück? Oder doch gestellt? Man ist unentschlossen. Man kann sich hineindenken in dieses Foto und den Menschen darin Geschichten andichten. Oder einmal dort um die Straßenecke schauen, um zu sehen, wohin die Lokomotive fährt. Ob man sie riecht? Was trägt der Mann im Vordergrund da eigentlich so geheimnisvoll in Zeitung verpackt? Einen Spiegel? Ein Bild? Hat er ein Gemälde gekauft? Oder ist er selbst Maler? Für wen sind die Blumen, die die Frau in der Hand hält? Machen sie und das Mädchen einen Besuch? Was ist das eigentlich für ein Laden? An der Wand steht: "Epicerie du Viaduc" (Gemischtwarenladen zum Viadukt) Was kauft man dort? Zum Beispiel "Bières des ..." und sicher noch mehr... Am Haus links meine ich das Wort "postillon" zu entziffern. Es stehen Gerüste am Fuß des mächtigen Viadukts. Ist er vielleicht gerade erst fertiggestellt worden? Durchschneidet etwa just in diesem Moment die unaufhaltsame Moderne in Form einer Eisenbahn das alte Stadtviertel? Zum Bild gefrorene Geschichte? Magie eines Bildes. Gute Kunst. Nun gibt es zu unserem Segen (und zu unserem Fluch) das Internet, das es unwarscheinlich leicht macht, nach diesem Bild zu forschen und ihm auf die Spur zu kommen. Das Foto gehört zu Kertész' bekanntesten (noch bekannter ist seine Aufnahme einer Gabel auf einem Tellerrand) und ist gerade wegen seiner geheimnissvollen Ausstrahlung zu einer Ikone der Fotokunst geworden. Es wurden Vermutungen angestellt, ob Kertész zu diesem Bild vielleicht inspiriert wurde, so erinnern die Brückenbögen mit der Lokomotive stark an klassische Gemälde von de Chirico. Und auch Lyonel Feininger hat diesen damals relativ bekannten und großen Viadukt bereits vor dem ersten Weltkrieg gemalt. Von Kertész sind übrigens noch zwei andere Aufnahmen derselben Straßensituation erhalten, diese allerdings gänzlich unbevölkert und geradezu gewöhnlich. Offenbar hat Kertész die nämliche Stelle mehrfach aufgesucht, doch erst beim dritten Male "geschah" das Bild: KLICK Und ein erhaltenes Original-Negativ zeigt, dass Kertész den Bildausschnitt nachträglich angepasst hat. Dem Mann im Vordergrund nahm er die Beine, und wie ich finde hat er die Wirkung und Dynamik des Bildes dadurch entscheidend erhöht: KLICK Hier KLICK stellt jemand die These auf, der Mann im Vordergrund könnte der mit Kertész befreundete Maler Willi Baumeister sein. Nun, der Kinnpartie nach wäre das möglich, vergleiche: KLICK. Wenn dem so wäre, könnte man wohl zumindest den Mann als gestellt betrachten. Zum Ort: Der Viadukt befindet sich in Meudon, südwestlich von Paris, und wurde bereits 1840 gebaut: KLICK. In den 1930er Jahren wurde er baulich etwas verändert. Die Straße im Foto, es ist die Rue du Doctor Vuillième, hat sich bis heute gar nicht mal so sehr verändert, zumindest die Häuser stehen alle noch: KLICK. Eine urige kleine Ecke ist das dort: KLICK Verliert nun das Bild, wenn man all dies weiß, etwas von seiner Ausstrahlung? Von seinem Geheimnis? Nein, ich denke nicht, zumindest dann nicht, wenn man es zuersteinmal ganz unvoreingenommen betrachtet und sich dann erst mit den Hintergründen befasst hat. Und so geht es wohl auch noch anderen, die sich von dem Bild künstlerisch inspirieren lassen, zum Beispiel hier: KLICK, oder hier: KLICK. Und hier wird das Foto Anlass zum Nachdenken über "luck and skill" in der Fotografie im Allgemeinen: KLICK Gute Kunst lebt eben aus sich heraus.
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