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"Am Montag gingen Welten zu Ende" ...
... schrieb Jazzam auf meinen Eintrag vom 22. November (KLICK).

Ja, tatsächlich. Jürgen Kramer ist gestorben.

Was war los am Montag? Von Beginn des Tages an war die Stimmung drückend. Jazzam fühlte sich schon beim Aufstehen nicht gut, und ich war gereizt und dünnhäutig. Wir stritten, schossen Worte ab, ließen Energien in die Luft. Knall! Ich wollte schon fort, doch dann kamen wir wieder zusammen und frühstückten gemeinsam. Da ist nämlich so ein Band zwischen uns, das muss ganz sicher aus Gummi sein. Wird es einmal gedehnt, zieht es uns auch wieder zueinander.

Doch als ich mich auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz machte, ballte sich in mir noch immer alles zusammen. Schwermut überkam mich, Ausweglosigkeit, sehr fatalistisch. Schrecklich. Kein Weg. Ich fühlte mich in meinem Leben beengt und unfrei. Der Sinn, die Zeit, der Raum, die Gesundheit ... die Möglichkeit ...

Ich kenne solche Stimmungen bereits, ab und zu ereilen die mich, und erst recht im November.

Doch diesmal schien ein Ende erreicht. Immer wieder schoss es mir durch den Kopf: Ich würde kein Künstler mehr sein, das sollte heute enden! Ich würde nicht mehr träumen, das sollte heute enden! Ich würde nicht mehr diesen irren, unvorhersehbaren Weg der künstlerischen Inspiration gehen. Diesem Ideal wollte ich heute abschwören, das sollte heute enden!

Ich würde fortan ganz realistisch mit realistischen Zielen leben. Konventionell arbeiten, Geld verdienen, die Erwartungen erfüllen, es irgendwie machen. "Ich" würde nicht mehr gebraucht.

Vor dem Rechner sitzend sagte es in mir ganz klar: Auch einen Blog brauchst Du nicht mehr zu führen. Ein Schlusspunkt musste gesetzt werden. Fin. Mit Bleistift schnell auf einen herumliegenden Zettel gezeichnet. Reinzeichnung? Nein, ein Ende ist ein Ende. Fin! Viertel vor Zwölf war das.

Die Eingabemaske fragte mich, in welcher Kategorie der neue Beitrag stehen sollte. "Befindlichkeit", was sonst? Nein, durchfuhr es mich plötzlich, wenn ich das mache, könnte womöglich irgendjemand da draußen denken, ich wolle mich ... Das ging nicht, so etwas darf man nicht tun. Verantwortungsgefühl. Also: "Gedachte Welt".

Ich hatte noch eine Zeichnung zu machen, im Auftrage. Damit befasste ich mich den Nachmittag über. Die letzte! Danach legte ich meine Utensilien in eine Schublade und schob sie zu.

Fin.


Der nächste Tag, der Dienstag, war recht ruhig. Jazzam und ich, bzw. das, was von Ich übrig war, gingen spazieren, später bereiteten wir uns auf den Abend vor. Gemeinsam mit anderen wollten wir eine Lesung aus dem Buch der Gelsenkirchener Geschichten gestalten. Die Lesung verlief harmonisch und gut. Befriedet ging ich von dort, vieles begann sich langsam zu lösen und wieder zu öffnen.

Ich hatte den Ton der Lesung mitgeschnitten und setzte mich spät noch einmal an den Rechner, um die Aufnahme zu bearbeiten. Als ich damit gerade fertig war, las ich die Nachricht:

Jürgen Kramer war gestorben. (KLICK)

Wie ein Schlag. Alles kippte. Das kann doch nicht wahr sein. Jürgen.

Das mag jetzt vielleicht merkwürdig klingen, aber in diesem Moment habe ich seine Telefonnummer gewählt. Ich dachte, er würde vielleicht abheben. ... Oder aber jemand anderes, Angehörige, ein Arzt, wer weiß. Oder aber es würde niemand abheben. ... Es hob niemand ab. Und mir wurde klar, dass das Telefon in einer leeren Wohnung klingelte.

Die folgenden Tage waren sehr traurig. Viele äußerten sich im Netz. Mir kamen keine Worte. Ich bin von meiner Natur her schwer zu berühren, bin einfach nicht so tiefgängig (etwas, was mir oft Gedanken macht) - doch um Jürgen habe auch ich geweint.

So plötzlich war das gekommen. Diesen Freitag hatte er noch eine Beuys-Ausstellung in Bergkamen einleiten wollen. Er war aktiv mitten in seinem Fluss, seinem Fluxus. Und dann so herausgerissen. Er hatte es wohl ebensowenig kommen sehen, wie wir anderen.





Wer war Jürgen Kramer? Ein Künstler. Ja, das war er wirklich. Er stand für die Kunst. Er war die Kunst. Er lebte sie. Bedingungslos. Er meinte es ernst.

Wirkliche Ernsthaftigtkeit ist etwas so Seltenes und etwas doch so Wichtiges.

Jürgen zeigte Kunst, er erzählte Kunst, er focht für die Kunst unermüdlich immer neue Dispute, sie sind im Netz fast alle nachzulesen. Er bezog eindeutig und mit größter Überzeugung Position für die Kunst - und stieß damit oft auch auf Ablehnung und Gegenwehr. Bisweilen war das heftig. Manch einer stemmte sich mit Hohn und Spott, gar feindselig, gegen seine Worte, gegen einen, der unerwünschte Wahrheit kundttat. Doch im Grunde suchte Jürgen gerade auch zu provozieren, aufzurütteln. "Revolte" nannte er das.

Viele standen zu ihm, ich ganz besonders. Und ich diskutierte ungemein gern mit ihm, oft auch kontrovers, bisweilen neckend. Er verstand und schätzte das.

Wir spürten, dass in der Kunst etwas ganz Besonderes steckt, etwas ungemein Wichtiges, das Geheimnis des Lebens sozusagen.

Sein Lebenswandel imponierte mir ganz gewaltig. Er war. Er tat. Er ging seinen Weg.

Das hatte durchaus auch einen düsteren Aspekt. Denn sein Weg war oft einsam. Er gab viel an die Kunst, im Grunde fast alles. Vielleicht auch infolgedessen war er bereits seit langer Zeit gar nicht mehr gesund. Viele, die ihn in früheren Zeiten gekannt hatten, erkannten ihn später äußerlich kaum wieder. Und mir wiederum fällt es schwer, den Jürgen, den ich kannte und so schätzte, mit dem auf alten Fotos zusammen zu bringen. "Frühzeitig gealtert und innerlich sehr jung geblieben", so drückte Emscherbruch es aus. (KLICK)

Leben und Tod in Berührung?





Jürgens Lehrer war der große Joseph Beuys, über den ich von ihm und durch ihn viel erfahren und gelernt habe. Jürgen wurde mir, so ganz nebenbei, ein Lehrer, der mich mit den Beuys`schen Ideen bekannt machte - von denen manche irgendwie unausgesprochen immer schon auch in meinem Kopf steckten. Eingeboren????

Beuys sagte: "Jeder Mensch ist ein Künstler." Der wohl richtigste und von vielen mit allergrößtem Eifer missverstandene Satz. Ich denke heute, Beuys hat ihn absichtlich so gesagt, dass er missverstanden werden konnte. Denn auch er suchte immer das Gespräch über seine Sätze, suchte die Auseinandersetzung, die Revolte, denn ohne die hätten sie auch schnell wieder untergehen können im Wüten der Welt. Sie durften nicht zu leicht erkennbar sein; gerade darin lag auch ihre Tiefe, ihre Lebendigkeit.

In diesem Sinne schlug der Beuys-Schüler Jürgen Kramer in seiner Malerei sehr schnell eine Richtung ein, von der er sich praktisch sicher sein konnte, dass der große, modische Kunstmarkt niemals mehr als ein Lächeln für ihn übrig haben würde. Er malte gegenständlich, wo andere abstrakt malen, er malte realistisch, wo andere Formen reduzieren. Er malte fahrig und unfertig, während andere sich der, wie er es nannte, "Schamhaarmalerei" befleißigen. Während die Vertreter der großen Kunstwelt oft beeindruckend-kühle Eleganz anstreben, malte er farbig, blumig, menschlich, gefühlig. Und oft auch ganz schön kitschig! Ja, der Kitsch war ihm etwas sehr Liebes, Wichtiges.

Es soll hier auf keinen Fall so wirken, als habe Jürgen einfach prinzipiell "gegen den Strich" gemalt, das würde seinem überraschend vielseitigen Werk nicht im mindesten gerecht. Ich denke, er hat vielmehr so gemalt, wie ein Mensch aus sich heraus malen will - wenn er es denn wagt! Wenn er sich nichts aus der übermächtigen programmatischen Abschätzung der Moderne allem "Gefälligen" gegenüber macht. Wenn er sich auf seine ganz persönlich und dabei doch universell menschliche Suche begibt. Wenn er Kunst schafft, die auch ihm selbst "gefällt".

Ein Handschlag des Professionellen mit dem Dilettanten, vielleicht gar mit dem "Sonntagsmaler"? Sicher auch, aber nicht nur. Er war da noch mit ganz anderen im Bunde, mit großen Denkern und Künstlern, häufig aus der Romantik des 19. Jahrhunderts überliefert, doch auch in späteren Zeiten stets anzutreffen, mit einem ganzen verschworenen Bunde von Querdenkern und künstlerischen Individualisten, die sich keinem modernen Diktat beugen wollen, und die, trotz aller Verschiedenheit, bei genauem Hinsehen doch eines eint: ihre Auseinandersetzung mit den wesentlichen Dingen.

Das "Gute, Schöne, Wahre"? Ganz sicher. Doch auch das Dunkle, das Hintergründige, das Leidvolle, das Geheimnisvolle, das Gefährliche, das Traurige, das Lebendige, das Heitere. All das und mehr hat Jürgen gemalt.

"Mensch werde wesentlich!" - diesen Satz schrieb Jürgen sich auf die Fahne, und den sagte er uns auch unermüdlich immer wieder. In einer Zeit der Dekadenz, der Verflachung, der Verfransung, der Hyperisierung, des "Post-", in einer Zeit die sich, bei objektiver Betrachtung schlicht unleugbar, dem Wahnsinn, dem "NICHTS", dem Nihilismus, dem Unausdenkbaren hingibt, traf dieser Satz einen Nerv. Bei manchem unangenehm; jeweils da, wo er entlarvte.

Beuys erkannte die "soziale Plastik".
Jürgen Kramer sah, wie sie wankt und krankt.
Die Kunst war für ihn Heilung. Und wenn er sich ein um's andere mal mit Hölderlin fragte: "Wozu Dichter in dürftiger Zeit?" - dann wußte er doch genau die Antwort.





Fin?

Fin???

Wie könnte, nein, dürfte es ein Fin geben nach Jürgen Kramers Tod???

Nein!
Die Kunst stirbt nicht!
Und, wie Jürgen es sich bereits 1970 von seinem Lehrer Joseph Beuys schriftlich bestätigen ließ (KLICK): Ich stirbt auch nicht!


Ich danke Dir, Jürgen.


Jesse









 
 
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