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03 09
Leben striffen sich ...
Mir fiel heute aus irgendeinem Grunde etwas ein, was vor einigen Jahren passiert ist. Ich war auf Geratewohl zum Fotografieren unterwegs, entweder in Oberhausen oder in Duisburg, das weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls sah ich ein altes Haus, dessen Formensprache es auf den ersten Blick als in den Goldenen 20ern enstanden auswies. Über der etwas zurückgesetzten Tür ein aus Backsteinen gemauerter stilisierter Adler. Eines dieser schönen Details, aus jener Zeit als Architekten noch Freude an Gestaltung hatten.

Ich fotografierte den Adler und ging weiter. Plötzlich eine Stimme hinter mir: "Hallo, was haben Sie da eben fotografiert?" Eine Frau kam in diesem Moment aus dem Haus gelaufen und mir hinterher. Jeder, der regelmäßig im städtischen Umfeld fotografiert, kennt das nur zu gut. Man trifft solche Leute immer wieder. Was haben Sie da fotografiert? Haben Sie eine Erlaubnis dazu? Ich verbiete Ihnen, dieses und jenes zu fotografieren! Löschen Sie sofort das Bild! Und so weiter und so fort. Unmöglich. Nervig. Und im übrigen ohne rechtliche Grundlage, da die Panoramafreiheit das Fotografieren von Gegenständen und Landschaft im öffentlichen Raum eindeutig erlaubt! Aber das ist schon wieder ein ganz anderes Thema ...

Ich bin zu solchen Leuten immer ganz besonders nett, um ihnen gleich den kleinbürgerlich erregten Wind aus den demonstrativ geblähten Segeln zu nehmen. Ich sagte der Frau, ich hätte den Adler über der Tür fotografiert, das sei ja ein schönes, interessantes Objekt und doch sicher aus den 20ern, oder? Und ob das denn ein Problem wäre? Sie aber hatte sich schon halb wieder umgedreht, blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck von links nach rechts, meinte nur noch, nein, es sei kein Problem, und war wieder verschwunden.

Merkwürdig das. Was war ihr bloß durch den Kopf gegangen? Ich musste noch den halben Tag an sie denken. Was war gewesen? Hatte sie rein zufällig in dem Moment, als ich das Foto schoß, hinter der Tür mit dem kleinen Fensterchen gestanden und geglaubt, ich hätte sie fotografiert? Oder hatte sie vielleicht sogar geglaubt, es sei Absicht gewesen und es würde mehr dahinter stecken? Fühlte sie sich verfolgt? Wurde sie vielleicht tatsächlich von jemandem verfolgt? Von einem Stalker? Sie hatte sich immerhin leicht verstört umgeblickt, als suche sie jemanden. Oder war es ihr Kind gewesen, das gerade hinter der Tür gestanden war? Hatte sie gedacht, ich sei so ein Typ, der Kinder fotografiert? Hatte ihr Ex angekündigt, er würde das gemeinsame Kind entführen? Entführen lassen? Stalkte sie der Ex, indem er das Haus observierte? Oder erwartete sie, dass irgendjemand käme, um das Haus zu fotografieren? Standen ihr Zwangsräumung und Pfändung bevor? Knipsten mögliche Kaufinteressenten bereits morgens in ihr Schlafzimmer? Wurde ihre Familie bedroht? War die Mafia im Spiel? Oder hatte sie einfach eine Paranoia bezüglich Privatsphäre und Fotografieren? Steigerte diese sich zu Wahnvorstellungen? War sie im Geiste umgeben von obskuren Männern mit Fotoapparaten, die pausenlos um ihr Haus schlichen?

Was es auch war, ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, in welcher Lebenssituation sich diese Frau befand. Ich weiß nichts von ihrem möglichen Elend oder ihren möglichen Freuden. Aber wer weiß, in welche Story ich geraten wäre, hätte diese Begegnung länger gedauert als nur diesen einen kurzen Moment.

Im Grunde ist doch jeder Mensch eine Welt in sich. Ein Kosmos von Erlebnissen, Erfahrungen, Geschichten. Eine Vielfalt von Gedanken, Charakterzügen, Träumen, Ängsten und Abgründen. Gehen wir auf der Straße an einem Fremden vorbei, driften Universen aneinander vorüber. Kommt es aus irgendeinem Grund zum Kontakt, und sei es auch nur ein Satz, eine Frage, ein "Guten Tag", dann geht für diesen kurzen Moment ein Fenster auf ...

Nein, Schluß, bevor es jetzt noch pathetisch oder gar poetisch wird. Aber man mache einmal den Versuch, die Menschen, denen man tagtäglich auf der Straße begegnet, mit diesem Gedanken im Hinterkopf zu betrachten. Mannomann. Unermeßlich. Unerschöpflich. Unbegreiflich.






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