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01 13
Dekadensprünge in Baltik-Braun
Auf dem Vorgelände des Knappschaftskrankenhauses Recklinghausen fesseln sonderbar comicartig geformte, hauptsächlich in erdigem Orange gehaltene, glasierte Betonskulpturen, in etwa große pseudo-psychedelische Pilze darstellend, uns unvorbereitete Betrachter. Kinderspielgerät? Oder Stilelement?
Unter einem langgezogenen Vordach, getragen von dicken, Ypsilonförmigen Betonträgern mit zahlreichen Rauchverbotsschildern daran, gehen wir dann über zwei verschiedene, miteinander abwechselnde Bodenbeläge auf den Haupteingang des Krankenhauses zu. Dieser besteht aus einem dunklen schlauchartigen ins Gebäude hineinführenden Tunnel auf der linken Seite und einem parallel dazu verlaufenden helleren Glaskorridor auf der rechten, der den eigentlichen Eingang darstellt und durch eine breite automatische Drehtür betreten wird. Ein buchstäblich zweischneidiger erster Eindruck. Gleich dahinter in diesem merkwürdigen Zwischen-drinnen-und-draußen begrüßt uns eine Fotosammlung der Krankenhausbelegschaft. Nach Passage des Korridors verstehen wir dann auch den Sinn des dunklen Tunnels auf der linken Seite - das ist nämlich der Notausgang, der hier verblüffend funktional gedacht mit dem Haupteingang gleichgeschaltet wurde. Nun das Foyer, die Eingangshalle, der erste Raum des Krankenhauses, jener für die Funktion des ganzen Gebäudes wichtige Ort, an dem Architektur und hauseigenes Leitsystem den noch ortsfremden Besucher in Empfang nehmen und leicht verständlich in die richtige Richtung leiten sollten. Mit der richtigen Gestaltung einer solchen "Verteilerebene" und ihrer Signaletik befassen sich ganz sicher Seminare im Studiengang Architektur. Wir schauen uns einen Moment lang verwundert um. Das gibt's doch gar nicht. Zuerst fällt auf, dass der ganze Bereich gestalterisch von jenem dumpfbraunen, auf Glanz polierten Platten-Stein mit runden, kackfleckenartigen Einschlüssen dominiert wird, der sich mit fachlichem Namen "Baltik Braun" nennt, in Finnland abgebaut wird und uns allen seit den 1970er und -80er Jahren hinlänglich aus sämtlichen deutschen Innenstädten bekannt ist, vor allem in Zusammenhang mit deren neueren Häßlichkeiten, zum Beispiel als aufdringlich-glatte Fassadenverkleidung unangenehmer Arzthäuser, abgeschrägte Randeinfassung an Schaufenstern von Sparkassenfilialen und Kettenbäckereien, verdunkelndes Moment ohnehin schon dusterer und völlig verplanter Gebäudepassagen mit Uringeruch und mir ganz konkret auch noch als quadratische, leicht fettige Tischplatte in Pommesbuden. Ein Lieblingsmaterial dieser Dekaden. Alles musste schwarz, braun oder orange sein. Warum? Ein Geheimnis. Nun der zweite Aha-Moment: Dieses Krankenhaus hat Rolltreppen. Schmale Ein-Personen-Rolltreppen, die den Raum mit sonorem Brummen erfüllen. Die müssen der letzte Schrei gewesen sein, damals, bei Einweihung des Hauses. So modern. Geradezu spacig. Hier fahren die Kranken mit der Rolltreppe zum Doktor! Heute, und erst recht mit ihrer vollflächigen Baltik-Braun-Einfassung, verbreiten sie den Esprit einer durch Gebrauch nachgedunkelten Ubahn-Station. Erst irritierend, dann witzig: das mindestens an vier Stellen platzierte Edelstahlschild mit abgerundeten Ecken und einem Piktogramm, das vor Befahren der Rolltreppen mit überlanger Kleidung warnt. Jetzt sind wir endgültig im Bereich des Nahverkehrs angekommen. Dann dazu passend ein Stilbruch: die Seitenwand der Rolltreppenanlage ist mit einer bunten Teppichgestaltung beklebt, inklusive Künstlersignatur. Licht strömt übrigens von oben durch weiße, im Laufe der vielen Jahre leicht angegilbte Plastiklamellen. Der nächste Blick fragt: Wohin müssen wir denn nun eigentlich? In anderen Krankenhäusern gäbe es jetzt eine große, freundlich und deutlich beschriftete Tafel, die uns mit Pfeilen die Richtung zu den verschiedenen Abteilungen wiese. Nicht so hier. Also, geradeaus flüchtet der Raum schräg und leicht ansteigend hinter die Rolltreppen auf relativ weit entfernte Aufzüge zu. Noch davor gibt es allerdings die Möglichkeit durch zwei hintereinanderliegende Glastüren ein Treppenhaus zu betreten. Links davon sieht man zuerst einen roten Stehtisch mit einem roten Sonnenschirm und einer roten Spendensammelbox, dann das originale Architekturmodell, mit dem die Architekten damals den Bauherren ihren Entwurf vorstellten und, wie wir wissen, auch verkauften, dann eine Glasvitrine mit Büchern aus der Krankenhausbücherei und schließlich, ganz linkerhand, ein irgendwann im Laufe der Baugeschichte nachträglich eingebauter Wartebereich, der sich aktuell, in auffälligem Gegensatz zum Rest, als postmoderne Polsterzone mit in Mauve gehaltenen Blumenbildern präsentiert. Inzwischen fällt uns auch auf, dass in den hellbraunen Wandpanelen uns schräg gegenüber fast unsichtbar Türen zu Toiletten eingelassen sind (da müssen wir grad mal hin) und gleich daneben ein enger Wurmfortsatz von Seitengang auf eine Tür mit der Aufschrift "Kreißsaal" hinführt. Wollte man die Bewegungsrichtungen der wegsuchenden Menschen in diesem Krankenhaus-Eingangsbereich grafisch darlegen, was dessen spätmoderne Architekten damals bestimmt in irgendeiner Form getan haben, dann ergäbe sich wohl eine etwas unmotiviert asymetrische Wegeform um Ecken und herumstehende tragende Säulen herum. Vielleicht haben sie es ja doch nicht getan. Aber das wichtigste fehlt uns ja immer noch. Wir wollen uns anmelden! Wo ist die Anmeldung? Hierfür müssen wir uns umdrehen, denn betritt man das Foyer, hat man die ebenfalls nachträglich als Glasvitrine eingebaute Anmeldung im Rücken! Und wenn man dann darauf zugeht, sieht man auch die dort sitzenden Ansprechpersonen tatsächlich erst einmal von hinten, inklusive ihrer Unterlagen und des Krams unter ihrem Tresen. Man selbst muss um eine Ecke herum, um schließlich von vorne mit jemandem sprechen zu können. Zugegeben, die Aufgabe, in diesem Eingangsbereich die von den Architekten mutmaßlich vergessene Anmeldung noch nachträglich einzubauen, war keine ganz leichte, aber die hier gefundene Lösung muss einen ansonsten ruhigen und gefestigten Feng-Shui-Lehrer zur schieren Verzweifelung treiben. Ein raumgliederungstechnisches Worst-Case-Scenario! In Betrachtung des gesamten Raumes mit seinen diversen Wegen, Bereichen und konkurrierenden Designstilen, frage ich mich, selten verblüfft, wie logisch und technisch ausgebildete Menschen in der Lage sind, einen derart absurd verschobenen Quark zusammenzubauen? Aber wir sind noch nicht durch. An der gläsernen Anmeldung weist man uns den Weg zur nächsten Anmeldung: rechts. Dort laufen wir zuerst auf den Zugang zu einem klassischen Krankenhausflur zu, aber halt! Ein riesiger roter Pfeil zeigt uns, dass wir noch rechtser gehen müssen. Wand an Wand mit der gerade verlassenen Anmeldevitrine führt uns nämlich eine jüngstmoderne Glastür, nun wiederrum in derselben Laufrichtung mit der wir ursprünglich das Foyer betraten, in eine andere Welt. Dieser Raum nun atmet ganz den Style der 2010er Jahre. Teppich, helles Holz, gepolsterte Sitzbänke, die in ihrer Grundform zwar an frühere Formen gepolsterter, an Wänden entlang gezogenener Sitzbänke erinnern, etwa an das Streamline-Design der 1950er, dabei jedoch cool abgeklärt reduziert und damit auf eine schwer zu fassende Art "verunformt" wurden. Die Farbtöne greifen natürlich zeitgemäß irgendwo zwischen alles eindeutige, unentschlossene Grautöne laden ein. Die Wände werden von unregelmäßig daran geklebten Abschnitten eines offensichtlich computergenerierten, gewollt wohl an einen Sonnenuntergang, tatsächlich aber eher an loderndes Feuer errinnernden Bildstreifens "strukturiert". So schafft man Raumstimmung. Wir ziehen eine Nummer, nehmen Platz neben Kunstpflanzen in mediterran angehauchten, aber gleichermaßen formverzeitigten Kübeln und blicken auf mehrere Flachbildschirme, ob unsere Nummer darauf wohl erscheine. Irgendetwas ist merkwürdig an diesem Raum, was es ist, erschließt sich aber erst nach einer Weile. Obwohl klare Gradlinigkeit vortäuschend, ist alles hier irgendwie schräg angeordnet und gegeneinander versetzt. Die im Raum stehenden Polster scheinen mit ihren Kanten in die anderen, an der Wand entlanggeführten hineinstechen zu wollen. Der Grundriss des Ganzen muss von oben wie eine Art zerbrochener Stern wirken. Und die Lichtbänder in der Decke, sie sind wie Mikadostäbe versetzt und verdreht hingewürfelt. Keine Frage, das hier ist ultrapostmodern. Und vielleicht wollte ja der hier tätige gestaltende Geist, inspiriert von der funktionalen Wirrsal der 40 Jahre älteren Eingangshalle, dieser in dekonstruktivistischer Manier nochmal einen draufsetzen??? Dessen Publikum, Menschen, die aufgrund eines gesundheitlichen Problems hierher gekommen sind, sitzt verstreut und nicht wirklich behaglich in dieser Skulptur herum. Zwei laff von der Decke baumelnde Pappschilder weisen rot-frischeperlig darauf hin, dass es irgendwo hinter einem der langen, im Raum stehenden Holzelemente einen Coca-Cola-Automaten geben soll. Man müsste um das Holz herum, an der Wand entlang um eine Ecke in einen Winkel hineinwandern, dann würde man ihn vielleicht finden. Oder auch nicht. Ein paar Überraschungen werden sicher auch hier noch eingebaut sein.
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